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"Der Satz"

Der Gewinner des Wettbewerbes "Der Satz" erhält die Möglichkeit, live vor grossem Publikum in der Literaturshow aufzutreten. Dazu muss er oder sie den seinen/ihrer Meinung nach gelungensten Satz aus seinem/ihrem literarischen Werk mailen an:

nichtleser@hotmail.com 

Aus den eingesandten Sätzen wird der Gewinner-Satz ausgelost, welcher dann von seinem Autor/seiner Autorin an der nächsten Literaturshow vorgelesen und von einer fachkundigen Jury beurteilt wird. Eine phantastische literarische Karriere ist damit fast garantiert! (Marvins Satzinterpretationen © by Thomas Widmer)

Kostprobe:

 

Gewinner "Der Satz" vom 1.10.2002: Ronny Rickli aus Niedergösgen mit dem Satz: "In Wirklichkeit war es nie wie früher." 

Die Interpretation von Marvin:

Marvin: Ich bin sehr beeindruckt. Wir haben es hier mit einem ausgebufften Erzähler zu tun. Vorerst macht der Satz ja den Anschein, als werde eine Art proustsche Wehmut zelebriert, ein Schwelgen im Verblassenden, eine demonstrative Missachtung der Gegenwart im Namen der Vergangenheit; es wird so getan, als gehe es um ein Erinnern an die Heimat, in der - laut Ernst Bloch - ja bekanntlich noch keiner je war. Aber meiner Meinung nach sind das raffinierte Täuschungen und geht es hier nicht um eine Suche nach dem verlorenen Gestern. Nein, liebe Leute im Saal, ich denke, der Autor formuliert ganz bewusst nicht direkt, er sagt nicht: «Die Wirklichkeit war nie wie früher.» Sondern er formuliert eben: «In Wirklichkeit war es nie wie früher.» Meiner Meinung nach liegt die Betonung in diesem meisterlichen Satz nicht auf dem NIE. Sondern auf dem ES. Mit anderen Worten: Hier dürfte das IT von Stephen King evoziert sein, jenes freudianisch dem städtischen Gully, dem Abwasserunterbewusstsein entsteigende Wesen, jener Kleinkinderschreck, das grosse Andere, welches die bürgerliche Vernunft unter den Boden verbannt hat. Das ist die Pointe des Satzes, und wir können davon ausgehen, dass wir es hier mit einem der Psychoanalyse mächtigen, aber auch mit einem der Horrorliteratur nicht abgeneigten Autor zu tun haben, und ich möchte gern noch weiter ausholen und vielleicht dazu....

 

Gewinner vom 4.2.2003: Noch einmal Ronny Rickli aus Niedergösgen mit dem Satz: "Laptops sind tragbare Pornokinos."

Die Interpretation von Marvin:

Marvin: Rickli ist halt einfach ein grossartiger Schriftsteller. Und zwar, weil er stets entschieden die Doppelbödigkeit anstrebt und sich nie mit dem Vordergründigen zufrieden gibt. Natürlich kann man diesen Satz im Sinn einer simplen Prädikatenlogik lesen, wonach also Laptops gleich Pornokinos sind. 
Aber natürlich ist unser Rickli kein Neopositivist - gerade die scheinbare Einfalt des Satzes verweist im Sinne Hegelscher Dialektik auf seine Komplexität. Zum einen thematisiert dieser grosse Visionär aus dem Solothurnischen die Austauschbarkeit der Dinge in einer postindustriellen Simulationsgesellschaft nach Baudrillard: Jedes Ding ist nicht mehr deckungsgleich mit sich selber, es hat seine Essenz eingebüsst und ist bloss noch ein untiefes Zeichen, das im Kontext einer hermeneutischen Endlos-Schleife auf das nächste Ding verweist und nur in dieser deiktischen Relation seinen ontologischen Sinn noch bewahrt. Wenn überhaupt.
Zum anderen macht Rickli in seinem kraftgeladenen Satz auch klar, dass diese zunächst zyklische Logizität auch eine transzendente Dimension enthält: Jedes Ding, gerade auch das hoch technische, ist in seiner medialen
Metaphorizität.....

 

Gewinner vom 1.4.2003: Susi Zihler mit dem Satz: "Der Kaffeesatz in einer Tasse ist immer ganz unten."

Die Interpretation von Marvin

Marvin: Susi Zihler beweist mit ihrem Satz etwas ungemein stringent: die weibliche Ästhetik, welche von den Theoretikerinnen der Frauenbewegung immer wieder behauptet wurde - diese weibliche Ästhetik kann sehr wohl aus dem weiblichen Alltag geboren werden. Nicht wahr - für jede schreibende Frau gibt es ja das Problem des Nullpunktes zu lösen. Die Schriftstellerin ist gewissermassen Münchhausen, der sich am eigenen Bart aus dem patriarchalen Sumpf ziehen muss. Anders gesagt: jede Literatin muss von männlichem Gelände aus starten und soll doch genuin weiblich sein. Tatsächlich hat die Autorin den Mut zur autosexistischen Position. Susi Zihler wagt es, als Schriftstellerin in der Küche anzufangen, in jener Küche, in der ihre Geschlechtsgenossinnen über Jahrtausende gefangen waren. Sie verweigert sich jeder feministischen Programmatik, welche die historischen Tatsachen im Lichte eines Hic et Nunc überspringen und direkt in die Geschlechterbefriedung der Zukunft wechseln will. Vergewärtigen wir uns in dem Kontext noch einmal Zihlers Satz: «Der Kaffeesatz in einer Tasse ist immer ganz unten.» Wer so schreibt, leugnet die Erfahrung als heuristische Kategorie nicht. Sondern er - bzw. sie - baut aus der Erfahrung, welche Ehefrauen und Mütter seit Anbeginn der Zeiten mit dem Kaffeesatz sammeln konnten - baut aus dieser Erfahrung ein Werkzeug der Transzendenz. Ein beeindruckendes Beispiel für die Dialektik von Stärke und Schwäche. Ich wage zu behaupten, dass Zihlers Text in seiner Längendimension schnell an Impetus gewinnen wird, gerade weil er die normative Kraft des Faktischen nicht missachten will.

 

Auch mit dabei waren: 

 

Wir gratulieren den glücklichen Gewinnern!

 

last update 07/10/03

©Myriam Dunn